Schicksale, Geschichten, Gedanken

  • Heute Sonntag traf man sich auf Balkonen, sass irgendwo doch wieder gemeinsam mit Freunden, kam sich nahe, näher als man sollte, oder sich einzugestehen gewillt ist. Zwei befreundete Paare umarmen sich wechselseitig, im Garten sitzt auch die Nachbarsfamilie mit ihren kleinen Kindern, man spielt mit den Kindern, später der Kontakt mit zwei anderen Freunden. Warum ist mir mulmig und sogar grumlig?
  • Die Menschen begegnen sich höflicher. Sie sind rücksichtsvoll, machen Platz im Tram, auf den Gehwegen. Man grüsst sich, blickt sich an. Wir geniessen das schöne Wetter, sind offen für andere Menschen und die mächtige Kraft des am-Leben-Seins, scheint uns alle viel direkter und zugleich bewusster zu umfassen.
  • Meine jüngeren Kollegen in den Arztpraxen haben in Corona-Zeiten wenig Arbeit. Die Leute rennen nicht wegen jedem Bobo zum Doktor. Aktuell ist die medizinische Unterhaltungsindustrie auf Eis gelegt. Wie viel unnötigen Balast musste das Gesundheitswesen doch tragen?

R. ist eine schöne Frau. Vor einem guten Jahr wurde ein aggressives Krebsleiden entdeckt und operiert. R. hatte kein Glück mehr erhofft. Sie erwartete nicht mehr viel von ihrem Leben. Sie hatte sich zwar von der OP erholt. Durch eine neue Liebe blühte sie plötzlich wieder auf.

B. ist ein guter Mann. Er hat sein Leben rasch auf R. eingestellt. Auch als der Krebs sich bei R. mit Metastasen zurückmeldete, blieb er seiner Liebe treu. R. hatte neuen Mut gefasst und unterzog sich einer Chemotherapie.

Dann kam Corona. Die Chemotherapie kompromittiert das Immunsystem. R. zählt zur Risikogruppe der besonders Corona-gefährdeten Menschen. B. will auf keinen Fall seine R. anstecken. Die beiden können nicht mehr zusammen sein, sich nur auf Distanz noch sehen. R. zieht wegen Corona zu einer Freundin, welche auf dem Lande ziemlich isoliert lebt. Können R. & B. die letzten Tage und Wochen ihrer Liebe nicht mehr gemeinsam leben?

B. fragt mich, was er tun kann. Seit Freitag kann er am Arbeitsplatz getrennt von anderen Mitarbeitern schaffen. Er benutzt keine ÖV. Ein Teil der Arbeit macht er im Homeoffice. B. ist seinem entgegenkommenden Arbeitgeber sehr dankbar.

Ich meine, dass R. & B. am Dienstagabend wieder zusammenkommen können. Nachdem B. fünf Tag lang sicher keine Coronaviren aufgelesen hat, ist das Restrisiko sehr gering.

Ich arbeite in einem Saal, wir sind nur wenige Menschen in diesem Raum, der sonst anders genutzt wird. Um mich herum werden riesige Mengen an Laborverbrauchsmaterialien herummanövriert. Ein pensionierter Professor ist in der Corona-Krise als Chef-Logistiker wieder im Einsatz.
Heute Morgen am 30.3.20 war das Telephon unserer Hotline eigentlich eher ruhig. Trotzdem wurde ich durch etwa ein Duzend merkwürdiger Anrufe gestört:

Medizinische Virologie, Seidenberg?

Hallo, hier ist XY (ich habe den Namen nicht verstanden). Ja hallo, ich brauche Hilfe. Meine Ziege ist jetzt am gebären.

Wie bitte, ist das der Gebärsaal?

Ich möchte mit dem Doktor sprechen bitte.

Ja, hier ist Dr. Seidenberg von der Corona-Hotline des virologischen Institutes.

Ist das ein Witz, wollen Sie mich hochnehmen? Meine Geiss ist am gebären, ich brauche den Doktor.

Nein, hier ist Dr. Seidenberg, medizinische Virologie der Uni Zürich.

Die Frau hängte entnervt auf. Ich kann sie verstehen. Corona-Hotline ist kein Witz, aber meine Arbeitskollegen sahen mich erstaunt an und lachten, als ich das Gespräch, das sie halb mitgehört hatten, erklärte.
Was war da los? Ich vermute eine Panne der Swisscom. Kurz vor der Ziegenhirtin war ein Romand am Apparat, der sich mit irgendeinem anderen elektrischen Kraftwerk verbunden glaubte, und anschliessend kamen noch rund ein Duzend andere, offensichtlich falsch verbundene Anrufer auf meine Kopfhörer...

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